Renten­er­hö­hung wird zur Renten­kür­zung in der Grundsicherung

Von Inge Hannemann

Zum 1. Juli steigt die Rente. Im Osten um 5,86 Prozent, im Westen um 4,39 Prozent. Und prompt schnappt die Renten­falle für rund 650.000 Rentner*innen in der Grund­si­che­rung im Alter und bei der Erwerbs­min­de­rung zu. Diese können sich nämlich nicht über die Renten­er­hö­hung freuen. Für sie kommt sogar ein Verlust raus. Wie kommt das zustande?

Renten­er­hö­hung wird im Vorfeld abgezogen

Für alle Rentner*innen, die nach dem 31.03.2004 in Rente gegan­gen sind, wird die Rente am Ende des Monats ausbe­zahlt. Die Grund­si­che­rung wird hinge­gen zu Beginn eines Monats bezahlt. Die Rente wird als Einkom­men auf die Grund­si­che­rung ange­rech­net. Hier gilt das soge­nannte monat­li­che Zufluss­prin­zip. Das bedeu­tet, das Grund­si­che­rungs­amt zieht auto­ma­tisch zu Beginn des Monats Juli die erhöhte Rente schon als anre­chen­ba­res Einkom­men von der Grund­si­che­rung ab, obwohl die Rente erst Ende Juli ausbe­zahlt wird. Die Grund­si­che­rungs­leis­tungs­be­rech­tig­ten bekom­men somit Anfang Juli (Auszah­lung erfolgt am letz­ten Tag Ende Juni) weni­ger Grund­si­che­rung als üblich. Nehmen wir ein fikti­ves Beispiel: Erwerbs­min­de­rungs­rent­ne­rin Luise Hugen­schmidt erhält 650 Euro Rente und 274 Euro Grund­si­che­rung. Zum 1. Juli steigt ihre Rente um 38,09 Euro. Zum 1. Juli (Auszah­lung 30.06.) werden Luise nur noch 235,91 Euro Grund­si­che­rung (274 Euro – 38,09 Euro) und Ende Juli 688,09 Euro Rente über­wie­sen. Für den gesam­ten Juli gerech­net hat sie statt 924 Euro nur 885,91 Euro (650 Euro Rente Ende Juni plus 235,91 Euro Grund­si­che­rung) zur Verfü­gung. Dieser Fehl­be­trag wird auch im Laufe des Jahres nicht mehr ausge­gli­chen. Kurz gesagt: Jahr für Jahr kommen diese Menschen im Juli in eine Bedarfsunterdeckung.

Rente: Kein Thema in dieser Legislaturperiode

Eine gesetz­li­che Ände­rung scheint nicht in Sicht. Über­haupt scheint das Thema Rente in dieser Legis­la­tur­pe­ri­ode kein Thema zu sein. Dabei stieg die Anzahl der aufsto­cken­den Rentner*innen und Erwerbs­ge­min­der­ten in der Grund­si­che­rung seit 2003 um mehr als das Doppelte an. Waren es 2003 rund 439 Tausend, so waren es 2022 bereits 1,2 Millio­nen Menschen, deren Rente nicht zum Leben reichte. Blumig klang es kürz­lich, als es im „Tages­spie­gel“ hieß: „Refor­men haben gewirkt: Erwerbs­min­de­rungs­rente in zehn Jahren deut­lich gestie­gen“. Demnach sind die Renten von rund zwei Millio­nen Erwerbs­min­de­rungs­ren­ten „um knapp 60 Prozent auf durch­schnitt­lich 1065 Euro brutto pro Monat gestie­gen“. 2013 lag die durch­schnitt­li­che Erwerbs­min­de­rungs­rente noch bei 678 Euro. Das kommt u. a. dadurch zustande, dass die Zurech­nungs­zei­ten seit 2014 in den vergan­ge­nen Jahren mehr­fach verlän­gert wurden. Die Rente wird nun so berech­net, als hätten die Neurentner*innen bis zum allge­mei­nen Renten­be­ginn mit ihrem bishe­ri­gen durch­schnitt­li­chen Einkom­men gearbeitet.

Schwei­gen unter der Regierungskuppel

Eine Renten­höhe von 1.065 Euro brutto ergibt rund 900 Euro netto Rente. Also, knapp unter dem Anspruch auf Grund­si­che­rung, der mit rund 924 Euro ange­setzt wird. Die Erhö­hung der durch­schnitt­li­chen Erwerbs­min­de­rungs­rente möchte ich hier nicht klein­re­den. Bei weitem nicht. Das ist auch nicht das Thema. Das Thema ist die Bedarfs­un­ter­de­ckung im Monat Juli, an dem sich einfach seit Jahren nichts tut und poli­tisch von den jeweils regie­ren­den Parteien still­schwei­gend hinge­nom­men wird. Es herrscht ein Schwei­gen unter der Regie­rungs­kup­pel. Unter der letz­ten Groko (CDU/CSU und SPD) wurde durch DIE LINKE ein Antrag einge­reicht, um das Zufluss­prin­zip zukünf­tig zu unter­bin­den. Dieser Antrag wurde im Ausschuss für Arbeit und Sozia­les im Juni 2021 (DR 19/24454 / DR 19/30504) durch die CDU/CSU und der SPD abge­lehnt. Die FDP und die AfD enthiel­ten sich. Die Grünen stimm­ten für den Antrag. Betrof­fene, Sozi­al­ver­bände und Gewerk­schaf­ten kriti­sie­ren die Anrech­nung bis heute. Deren berech­tig­ten Stim­men werden bis heute igno­riert. Sie versin­ken im Nirwana. Klar und deut­lich muss gesagt werden, dass es den Regie­ren­den schein­bar egal ist, ob die Betrof­fe­nen mit dem weni­gen Geld aus der Grund­si­che­rung noch mehr jonglie­ren müssen als eh schon. Aus der Grund­si­che­rung lässt sich nichts anspa­ren, um den Kürzungs­mo­nat Juli irgend­wie zu über­brü­cken. Die stei­gen­den Kosten aus der Infla­tion kommen hinzu. Die jetzige Regie­rung täte gut daran, den ihnen bekann­ten Rechen­trick zu been­den, damit 1,2 Millio­nen Menschen in der Grund­si­che­rung ihr Recht auf das volle karge Exis­tenz­mi­ni­mum bekommen.

Inge Hanne­mann ist eine der bekann­tes­ten Hartz-IV-Kritiker*innen. Die ausge­bil­dete Spedi­ti­ons­kauf­frau, Netz­werk­ad­mi­nis­tra­to­rin und Arbeits­ver­mitt­le­rin war Mitglied der Jusos und saß für DIE LINKE in der Hambur­ger Bürgerschaft. 

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