Anmer­kun­gen aus dem pande­mi­schen Leben

Von Lorenz Gösta Beutin — MdB

Bei der Fahr­kar­ten­kon­trolle frage ich den Schaff­ner, warum er keine Maske trägt, obwohl die Bahn expli­zit das Tragen einer Maske empfiehlt: Die Bahn kämpfe mit Liefer­schwie­rig­kei­ten, aber in ein paar Wochen würden wohl auch die Bahn­an­ge­stell­ten mit Masken ausge­rüs­tet. Da wären wir dann schon bei einem Dilemma: Jetzt sollen lang­sam die Maschi­nen des Kapi­ta­lis­mus wieder auf Voll­dampf laufen, alle Kraft voraus heißt es. Aber noch immer fehlt Schutz­aus­rüs­tung in ausrei­chen­dem Maß. Man hätte vorbe­rei­tet sein können, Studien zum Ausmaß einer globa­len Pande­mie gab es, wurden aber von den Zustän­di­gen nicht beachtet.

Ich bin unter­wegs nach Berlin, zur Sitzungs­wo­che des Bundes­tags. Und ja, Ihr habt recht: Genau genom­men ist mein Leben nicht pande­misch, glück­li­cher­weise, sondern es ist mein Leben in der Pande­mie, aber da ging es dann halt um die Wort­spie­le­rei zulas­ten der Präzi­sion… Jeden­falls sitze ich jetzt im Zug.

Los ging es schon am Bahn­hof und beim Einstei­gen: Mit Atem­maske bin ich gemus­tert worden wie ein Auswär­ti­ger oder Terro­rist. Um genau zu sein, ich habe eine ältere Dame am Bahn­steig gese­hen, mit Maske, sonst nirgends. Und bevor Ihr was sagt: Klar, es ist kein abso­lu­ter Schutz, Abstand halten bleibt dennoch notwen­dig (klappt aber auch immer Seltener).

Wenn wir in den letz­ten Wochen Radio gehört haben, ist davon viel die Rede gewe­sen, Abstand halten, zu Hause blei­ben. Wir als Bundes­tags­ab­ge­ord­nete haben da den Luxus, wir können Home Office machen. Aber man konnte ja den Eindruck gewin­nen, die ganze Repu­blik sei nicht auf Arbeit, würde nur vor Netflix hocken oder im Park Sport treiben.

Real haben über 50 Prozent in der Zeit des Lock­down malocht. Viele noch mehr als in den Mona­ten davor, was nicht nur an der 700prozentigen Umsatz­steie­rung beim Klopa­pier lag. Arbeits­zei­ten werden jetzt auch offi­zi­ell aufge­weicht, mit dem Arbeits­schutz ange­sichts von Corona ist es eh nicht über­all weit her.

Ja, es wurde geklatscht, gerade gestern Abend habe ich es wieder gehört, bei uns in der Straße. Und irgend­wie scheint jetzt gerade klar, dass unsere Gesell­schaft ganz gut auf die Akti­en­spe­ku­lan­ten und Immo­bi­li­en­haie verzich­ten kann, weni­ger aber auf die Pfle­ge­kräfte und Verkäufer*innen. Dass sie häufig mies bezahlt werden, dass Viele von ihrem Job nicht leben können, dass das noch jeman­den nach der Krise inter­es­siert, dass ist unser Job. Übri­gens: Sie riskie­ren gerade ihr Leben, damit wir was zu essen haben. Achja, ich vergaß, ab Montag geht’s ja schritt­weise raus aus dem Lock­down, wobei ich noch immer nicht weiß, ob es gesund­heits­po­li­tisch oder nur wirt­schaft­lich sinn­voll ist. Wir werden es sehen.

So, Halt Ludwigs­lust vorbei. Ich lese die neueste Umfrage, Linke verliert einen Punkt auf 8 Prozent, die CDU weiter in Rich­tung 40 Prozent. Könnte jemand die deut­sche Bevöl­ke­rung mal ordent­lich schüt­teln?! Wer hat die Priva­ti­sie­rungs­arien zu verant­wor­ten der letz­ten Jahr­zehnte? Ok, es war nicht nur die Union, es waren auch Grüne und SPD (die FDP erwähne ich nicht, hier ist neoli­be­rale Verkom­men­heit eh Programm). Und gerade bei der Union steht eine Maxime ganz oben: Dass es nach der Corona-Krise so weiter gehen möge, wie zuvor.

Geschenkt, dass es in Schland nicht so schlimm ist wie in Italien oder Spanien, hat zwei Gründe: 1. Die BRD ist der Zucht­meis­ter Euro­pas und hat vom Spar-Regi­ment in Europa profi­tiert, während andere Staa­ten ihre Gesund­heits- und Sozi­al­sys­teme zerstö­ren muss­ten. 2. Das Gesund­heits­sys­tem ist noch nicht so kaputt, wie es Spahn oder die FDP gerne hätten (oder besser: vor der Krise gerne gehabt hätten). Es ist noch nicht voll durch­pri­va­ti­siert, Gegen­kräfte bei den Gewerk­schaf­ten und beim Pfle­ge­per­so­nal konn­ten oftmals Schlim­me­res verhin­dern oder haben sogar zuletzt (Stich­wort Perso­nal­schlüs­sel oder Fall­pau­scha­len) Verbes­se­run­gen erkämpft – immer gegen die Herr­schen­den, versteht sich.

Gegen die Herr­schen­den zu demons­trie­ren glau­ben übri­gens auch die, die gegen „Impf­wahn“ oder ähnli­ches gerade auf die Straße gehen, seien sie rechts­ra­di­kal, wie der selbst­er­nannte „Volks­leh­rer“, oder Binde­glie­der ins esote­risch, verschwur­belte Quer­front-Milieu. Leider reicht es bis hinein in meine Face­book-Kontakte, dass Beiträge geteilt werden, die so jenseits von Gut und Böse sind, dass die Tisch­platte meines Schreib­ti­sches eine tiefe Delle hätte, würde ich meinen Kopf bei jedem Video von Wodarg, zu Bill Gates oder wie sie alle heißen in Verzweif­lung draufschlagen.

Aber ich erkläre lieber, liefere Hinter­gründe, Infor­ma­tio­nen, Tipps, wie man vermei­den kann, auf Blöd­sinn herein­zu­fal­len. Ich verstehe es: In der Corona-Krise werden die Verhält­nisse noch unüber­sicht­li­cher, da wird nach Deutung gesucht. Und in den letz­ten Jahren haben sich unsere Medien nicht nur mit Ruhm bekle­ckert. Nur dann ins andere Extrem zu verfal­len ist keine Lösung. Es gilt, Infor­ma­tio­nen wider den Strich zu bürs­ten, zu hinter­fra­gen, sich aus unter­schied­li­chen Quel­len zu infor­mie­ren. Insge­samt lässt sich dann ohne Schwur­be­leien von KenFM, Russia Today oder Nicht­denk­sei­ten ein ausge­wo­ge­nes Bild gewinnen.

Ich bin abge­schweift: Warum also steht DIE LINKE bei 8 Prozent, obwohl es doch gerade auch darum ginge, soli­da­ri­sche Alter­na­ti­ven zu entwi­ckeln, obwohl es aller­or­ten tönt, der Neoli­be­ra­lis­mus sei tot? Das Eine ist, dass wir in einer Art Kriegs­ge­sell­schaft leben, gestärkt werden da die Regie­ren­den, selbst aus Reihe der Linken gab es ja verein­zelte Rufe, Kritik dürfe jetzt erst­mal nicht so laut sein, jetzt sei Krisen­mo­dus angesagt.

Der andere Punkt: Unsere Partei hat sich in den letz­ten Jahren zu sehr mit sich selbst und ihren Konflik­ten beschäf­tigt, ist im Bundes­tag recht zahm gewor­den, hat hier und da an Profil verlo­ren. Und sie hat viel­leicht zu sehr den Blick für’s Ganze, für die konkrete Utopie der Gesell­schaft der Freien und Glei­chen verloren.

Mag alles sein, aber die Zeit ist jetzt: Wir brau­chen jetzt Antwor­ten für ein radi­ka­les Umsteu­ern unse­rer Gesell­schaft, nicht nur bei Gesund­heit und Sozia­les, auch bei Klima­schutz. In aller Deut­lich­keit: Wessen Welt ist die Welt? Das heißt auch: Schluss machen mit dem Kapi­ta­lis­mus. Und nein, das geht nicht von heute auf morgen. Aber die Brüche sind da, wir müssen sie weiten. Dass ein „System Change“ notwen­dig sei haben die Spat­zen schon vor Corona von den Dächern gepfif­fen. Es ist an uns, das Fens­ter aufzu­sto­ßen. Dass nichts bleibt, wie es war, dies­mal, nach dieser Krise, endlich einmal!

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